Die Diagnostikindustrie ist technologisch, ökonomisch und geopolitisch geprägt wie kaum ein anderes Segment des Gesundheitswesens. Nach Jahren des stabilen Wachstums erlebt die Branche eine Phase struktureller Neuordnung: Neue regulatorische Anforderungen, heterogene Erstattungssysteme, unsichere Lieferketten und innovative Wettbewerber aus lokalen Märkten oder dem Tech-Sektor stellen etablierte Geschäftsmodelle infrage. Gleichzeitig wächst der Druck, Fortschritt und Wirtschaftlichkeit in Einklang zu bringen. Regierungen und Kostenträger verlangen heute harte Evidenz: Diagnostische Verfahren müssen ihren klinischen und ökonomischen Nutzen klar belegen. Zudem verändern Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) die Wertschöpfung der Branche grundlegend. Automatisierte Laboranalysen, wissenschaftlich geprüfte Algorithmen und KI-gestützte Entscheidungsplattformen eröffnen neue Chancen. Gleichzeitig gehen damit aber auch neue Abhängigkeiten mit Blick auf Datenqualität, Infrastruktur und Regulierung einher. Das Jahr 2026 markiert einen Wendepunkt: Die Branche bewegt sich zwischen Disruption und Differenzierung, zwischen technologischem Aufbruch und strukturellem Anpassungsdruck.
Eine aktuelle Befragung von Porsche Consulting zeichnet ein klares Bild: 73 Prozent der befragten Führungskräfte aus führenden In-vitro- und In-vivo-Diagnostikunternehmen weltweit, sehen externe Risiken wie Zölle, Lieferkettenprobleme und politische Instabilität als die größte gegenwärtige Bedrohung. 67 Prozent nennen Erstattungs- und Marktzugangsbarrieren als wesentliches Wachstumshindernis. Wettbewerbsdruck und technologische Integration folgen mit deutlichem Abstand. Dr. Roman Hipp, Senior Partner bei Porsche Consulting, stellt hierzu fest: „Wachstum entsteht nicht mehr aus Größe allein, sondern aus Resilienz, Marktzugang und Geschwindigkeit.“ In der durchgeführten Studie umfasst der Begriff Diagnostik sowohl die In-vitro-Diagnostik, also Verfahren, Tests und Systeme zur Analyse von Proben außerhalb des menschlichen Körpers, als auch die In-vivo-Diagnostik, die bildgebende, funktionelle oder sensorbasierte Verfahren am Patienten selbst einschließt. Gemeinsam bilden beide Bereiche das Rückgrat moderner Prävention, Früherkennung und Therapieentscheidungen.
Marktzugang schlägt Wettbewerb
Die vergangenen Jahrzehnte waren je nach Region geprägt vom Wettbewerb um die besten Produkte und die vorteilhaftesten Preise. Heute verschiebt sich die Priorität klar hin zu Marktzugang und Risikomanagement. Ob in den USA, Europa oder Asien: Regulierung, Erstattung und geopolitische Situation entscheiden zunehmend darüber, ob ein Produkt überhaupt den Markt erreicht. Globale Risiken und Unsicherheiten werden von den Führungskräften gegenwärtig als die zentralen Herausforderungen angesehen. 67 Prozent nennen Erstattungen und Marktzugang als entscheidende Wachstumsfaktoren, während nur 50 Prozent den Wettbewerbsdruck als hauptsächliche Herausforderung wahrnehmen. Damit wird deutlich: Der eigentliche Wettbewerb liegt heute zwischen Gesundheitssystemen, Behörden und Kostenträgern, zusätzlich zum Wettbewerb zwischen Unternehmen.
Besonders betroffen sind europäische Medizintechnikunternehmen, die einen hohen Anteil ihrer Umsätze in den USA erzielen. Die führenden Unternehmen mit Hauptsitz in Europa erzielen gemäß der Studie von Porsche Consulting mehr als 45 Prozent ihrer globalen Erlöse in den USA, obwohl nur rund 30 Prozent der Belegschaft vor Ort tätig ist. Diese Abhängigkeit macht sie anfällig für regulatorische und handelspolitische Veränderungen, etwa durch neue Sicherheitsinitiativen und ergebnisorientierte Vergütungsmodelle im US-Gesundheitssystem. Unternehmen müssen ihre Kompetenzen im Bereich Marktzugang und Preisgestaltung gezielt ausbauen: Mit profitablen Erstattungsstrategien, datenbasierten Evidenzmodellen und einer proaktiven Kommunikation mit Entscheidern auf Kostenträgerebene.
Geschwindigkeit als kritischer Erfolgsfaktor
Neben dem externen Druck ist die Branche auch unternehmensinternen Reibungsverlusten ausgesetzt. Aus der Befragung geht hervor, dass die Bereiche Forschung und Entwicklung (F&E) und Zulassungsmanagement (Regulatory Affairs) besonders anfällig für Ineffizienzen sind: 90 Prozent der Befragten sehen hier die Ursache für Kosten- und Zeitverluste im Unternehmen. Während sich Innovationszyklen verkürzen und die Komplexität steigt, bleibt die operative Ausrichtung vieler Organisationen weitgehend unverändert. Besonders im Zulassungsmanagement, in dem komplexe regulatorische Anforderungen, Dokumentationspflichten und Prüfverfahren ineinandergreifen, entstehen erhebliche Verzögerungen. Zudem nennt ein Fünftel der befragten Führungskräfte unzureichende Prozessdigitalisierung, hohe Kosten oder zu langsames Projektmanagement als zentrale Hürden.
Die Verkürzung der Markteinführungszeit für Medizinprodukte zählt zu den zentralen Werttreibern in der Medizintechnikbranche. Aus der Praxis geht jedoch hervor, dass lediglich 35 Prozent der Medizintechnikprojekte im vorgesehenen Zeit- und Budgetrahmen umgesetzt werden. Trotz Rekordausgaben in Forschung und Entwicklung sinkt die Zahl der FDA-Zulassungen (Food and Drug Administration) jährlich um acht bis 14 Prozent. Das Potenzial ist erheblich: Durch standardisierte Toolchains (integrierte Werkzeuge und Prozesse für die Softwareentwicklung) und automatisierte Abläufe lassen sich laut verschiedenen Studien bis zu 40 Prozent Produktivitätssteigerung in F&E erzielen – und somit eine deutlich kürzere Markteinführungszeit.1 Ein zukunftsfähiges Forschungs- und Entwicklungsmodell nutzt generative KI zur Konstruktion mit computergestützten sowie automatisierten klinischen Studienprotokollen, intelligente Portfolio-Monitoring-Agenten und digitale Compliance-Assistenten. Solche Systeme schaffen Transparenz in Echtzeit, eine präzisere Planung und eine nahtlose regulatorische Dokumentation. Führungskräfte müssen Forschung und Zulassung somit künftig als
integrierten, datengetriebenen End-to-End-Prozess verstehen, nicht als lineare Abfolge. Entscheidend sind klare Leitbilder für die F&E-Transformation, schlanke Prozesse, digitale Toolchains und gezielte Weiterbildungsprogramme für Entwicklungs- und Regulatorik-Teams.
Lokalisieren statt globalisieren
Das Wachstum des Marktes verlagert sich zunehmend in Richtung der Asien-Pazifik-Region. 70 Prozent der Befragten sehen diese als die wichtigste Wachstumsregion, zugleich aber auch als größtes Risiko. China steht im Zentrum dieser Dynamik. Durch nationale Strategien wie „Healthy China 2030“ und „Made in China 2025“ sowie steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung hat sich das Land in weniger als einem Jahrzehnt vom Nachahmer zum Innovationsmotor entwickelt. Heute zählt China mehr als 32.000 Medizintechnikhersteller, verzeichnet seit 2017 einen Zuwachs von 290 Prozent bei innovativen Gerätezulassungen und erreicht einen lokalen Anteil von 97 Prozent bei neuen Produktzulassungen. China ist heute der zweitgrößte Medizintechnikmarkt der Welt und ein ernstzunehmender Wettbewerber in der Diagnostik.
Der US-Markt bleibt zwar wirtschaftlich zentral, ist jedoch politisch und regulatorisch volatiler geworden. Änderungen in den Erstattungssystemen sowie neue Reformen der Centers for Medicare and Medicaid Services (CMS) beeinflussen die Preisgestaltung und den Markteintritt zunehmend. Auch die wachsende Verbreitung privater Krankenversicherungen in der Mittelschicht trägt zu dieser Entwicklung bei. Europa wiederum zeigt ein anderes Bild auf: Der Markt wird von Fragmentierung geprägt. Unterschiedliche Erstattungssysteme, die Komplexität der „Medical Device Regulation” (MDR) sowie der „In Vitro Diagnostic Regulation” (IVDR) als auch der neue „AI-Act" verlangsamen Innovationen spürbar. Statt globaler Standardstrategien braucht die Branche regionale Markteinführungskonzepte: lokal angepasste Produktportfolios, agile Markteintrittsmodelle und Partnerschaften mit Akteuren vor Ort – von Kliniknetzwerken bis zu Digital-Health-Plattformen.
Digitale Diagnostik im Fokus
Kaum ein Thema prägt die strategische Agenda von Diagnostikunternehmen derzeit stärker als digitale Diagnostiklösungen. 73 Prozent der Befragten sehen diese als wichtigsten Trend der kommenden drei bis fünf Jahre, 80 Prozent investieren vorrangig in neue Technologien und digitale Lösungen. Der Markt für KI-gestützte Medizingeräte wächst rasant. Zwischen 2014 und 2024 stieg die Zahl der FDA-Zulassungen für Systeme mit künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen um durchschnittlich 44 Prozent pro Jahr. Insgesamt wurden bereits über 1.200 Systeme zugelassen: 75 Prozent davon entfallen auf die Fachbereiche Radiologie, Kardiologie und Neurologie, in denen der Einsatz digitaler Diagnostik besonders stark voranschreitet.2 Gleichzeitig nimmt die Anzahl der softwarebedingten Produktrückrufe durch die FDA deutlich zu. Dies ist ein klarer Hinweis auf den bestehenden Nachholbedarf in digitalen Qualitäts- und Entwicklungsprozessen. Diese Entwicklung zeigt: Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern eine Notwendigkeit, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und den Nutzen für Patientinnen und Patienten zu steigern. Wer digitale Innovation mit einem integrierten Erstattungs- und Zugangsmodell verknüpft, schafft nicht nur technologische, sondern auch ökonomische Wettbewerbsvorteile. Gefragt ist eine Strategie, die digitale Exzellenz und ökonomische Zugänglichkeit miteinander vereint. Ziel ist die Entwicklung skalierbarer, digital erweiterter Diagnostiklösungen, die durch eine klare Nutzenargumentation gegenüber Patientinnen und Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern überzeugen. Gleichzeitig werden belastbare Nachweise für klinische Wirksamkeit und Kosteneffizienz erbracht, um eine erfolgreiche Monetarisierung sicherzustellen.
Vier strategische Handlungsfelder für die Diagnostik 2026
Ausgehend von den Ergebnissen der Befragung wurden vier zentrale Handlungsfelder identifiziert, die über Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit entscheiden:
- Erstattungs- und Risikoexzellenz
Aufbau globaler Kompetenzzentren für Erstattungsstrategien, Preisgestaltung und Evidenzgenerierung, um die Zeit bis zur Erstattung, die Erstattungsquote und die Preisstabilität zu verbessern. - Regionale Markteintrittsstrategien
Entwicklung marktspezifischer Strategien, von Lokalisierung über Partnernetzwerke bis hin zu adaptiven Vertriebsmodellen. Der Fokus liegt auf einer verkürzten Zeit bis zur Markteinführung (Time-to-Market), einem effizienten Marktzugang und der Steigerung regionaler Umsatzanteile. - Erfolgreiche Produktstrategien
Verknüpfung digitaler Fähigkeiten mit klaren Monetarisierungsmodellen, um die Innovationskraft, den Return on Investment (ROI) und die Marktpositionierung zu stärken. - Interne Befähigung
Digitalisierung und Automatisierung der Kernprozesse, um Entwicklungszyklen zu verkürzen und die Produktivität zu steigern – gemessen an der Zeit bis Markteinführung, der Einhaltung von Budgetvorgaben und der Effizienz der Ergebnisse.
Orchestrieren statt reagieren
Dr. Roman Hipp fasst zusammen: „Die globale Diagnostik steht vor einer Transformation in doppeltem Sinne: Sie muss digital werden, ohne regulatorisch zu scheitern, und gleichzeitig global agieren, ohne lokale Relevanz zu verlieren.“ Mehr als die Hälfte der befragten Führungskräfte stuft ihr Unternehmen als nur „mäßig vorbereitet“ ein. Der Wille zur Veränderung ist vorhanden, doch die Umsetzung steckt vielerorts noch in den Anfängen. Die Branche steht damit vor einem systemischen Wandel. Strategien müssen an eine Realität angepasst werden, in der Zugang, Daten und Geschwindigkeit über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Die Gewinner von morgen sind jene, die Marktzugang strategisch managen, digitale Produktstrategien operationalisieren, interne Reibungspunkte beseitigen und ihre Organisation auf Agilität und Geschwindigkeit ausrichten. Die Zukunft der Diagnostik wird nicht allein von Technologie entschieden, sondern von der Fähigkeit, sie strategisch und ökonomisch zu beherrschen.
Kernaussagen